Nebencharaktere aus Lesersicht

Geht es euch auch manchmal so? Ihr lest einen Roman und der Held/die Heldin geht euch unglaublich auf die Nerven. Ihr überlegt schon, ob ihr das Buch einfach zuklappt und nicht wieder anfasst, da taucht er auf – der Nebencharakter, in den man sich einfach verlieben muss. Von diesem Moment an gehört euer Herz nur ihm, und ihr fiebert Seite für Seite auf seinen nächsten Auftritt! Dafür erträgt man dann auch gern mal anstrengende Held*innen…

Kommt euch bekannt vor? Dachte ich mir. Mir selber geht es auch immer mal wieder so. Ich mag in Mittelerde Sam lieber als Frodo, in Hogwarts Ron lieber als Harry, im Grishaverse Nikolai lieber als Alina (Okay, wer mag Nikolai nicht?) und so weiter. Ich habe gut die Hälfte der First Law-Trilogie von Joe Abercrombie auf den metaphorischen Nägeln gekaut, weil ich auf ein neues Kapitel mit dem Dogman gehofft habe.

Dass ein gutes Buch strahlende Nebencharaktere haben sollte, um eine reiche Welt und ein ganzheitliches Leseerlebnis zu kreieren – weil es eben nicht nur um den Helden geht – das ist für mich ein Fakt. Ausnahmen sind eher selten. Aber warum ist das so?
Was ist es, das uns manchmal so sehr an Nebencharakteren fasziniert? Sie sind es nicht, die die schwersten Schicksalsschläge einstecken müssen. Sie bringen nicht den Endgegner um. Sie werfen den Ring nicht ins Feuer. So etwas bleibt den Held*innen vorbehalten. Protagonist*innen erleben die ganz großen Abenteuer, machen die ganz großen Charakterentwicklungen durch, schlagen die ganz großen Schlachten.

Wenn sie unsympathisch und nervig sind, rückt das den Fokus automatisch auf die Nebencharaktere. Als Leser will man unterhalten werden, mitfiebern, sich vielleicht mit den Figuren identifizieren. Das geht nur, indem man eine gewisse emotionale Verbundenheit zu den Charakteren empfindet. Und es ist so schwer, einen Helden zu mögen, der selbstsüchtig, arrogant und begriffsstutzig ist! Daneben ist es einfach, als Nebencharakter die Herzen der Leserschaft zu erobern.

Denn: ein Nebencharakter, egal wie plotrelevant, steht nicht im Fokus des Romans. Es mag Szenen oder Kapitel aus seiner/ihrer Sicht geben, aber nie so ausführlich wie die Parts, die den Held*innen gehören. Wir lernen den Nebencharakter kennen und schätzen, aber oft nicht gut genug, um seine Fehler aufgezeigt zu bekommen.

Bei den mehr oder weniger wichtigen Handlangern der Antagonisten ist das anders. Da wissen wir, dass sie böse sind. Das ist ein wichtiger Teil ihres Charakterprofils. Aber Nebencharaktere, die dem Helden helfen oder einfach neutral bleiben? Schnell überstrahlt ein positiver Eindruck alles andere, und als Leser verbringen wir nicht genug Zeit mit ihnen, um von ihnen genervt zu sein.

Die Protagonist*innen dagegen erleben wir voll und ganz. Ihre Hoch- und Tiefpunkte, ihre Stärken und Schwächen, ihre positiven und negativen Seiten. Ein gut geschriebener Protagonist ist nicht nur strahlender Held, sondern hat Makel. Das ist wichtig, damit es eine gewisse Entwicklung geben kann. Einige fallen dabei sympathisch aus, andere weniger, und auch Bücher mit unsympathischen Protagonisten können unglaublich gut sein! Ich sage nur Eragon

Und auch in Büchern, die ganz sympathische Protagonist*innen haben, kann man sich in einen Nebencharakter verlieben. Der wäre vielleicht nicht so toll, wenn das ganze Buch aus seiner Sicht geschrieben wäre, aber als kleines, wiederkehrendes Bonbon ist er/sie einfach grandios.

Die Vorfreude sollte nämlich nicht unterschätzt werden. Den Helden oder die Heldin erleben wir als Leser ja die ganze Zeit. Auf unseren Lieblings-Nebencharakter müssen wir bisweilen kapitellang warten und haben Gelegenheit, vor Aufregung ganz hibbelig zu werden. (Erwähnte ich abgekaute Fingernägel?) Vorfreude ist eben doch die schönste Freude.

Wie seht ihr das? Wer sind eure Lieblings-Nebencharaktere, bei denen euer Herz höher schlägt?

2 Gedanken zu “Nebencharaktere aus Lesersicht

  1. Sunita

    Ich stimme zu, dass Nebenfiguren oft die strahlenderen Figuren sind, in die man sich verliebt 🙂 (Obwohl ich bei deinen Beispielen nicht unbedingt zustimmen würde ;)). Finde deine Begründung auch schlüssig, dass man von den Heldinnen einfach mehr erfährt (also Gut wie Schlecht) als bei Nebenfiguren. Ich habe ja die Theorie, dass Nebenfiguren oft bewundernswert sind, während Protagonistinnen vor allem dafür da sind, sich mit ihnen zu identifizieren und mitzufühlen – dafür müssen sie realistisch sein, Schwächen haben und vielleicht auch etwas blasser erscheinen, denn so können wir etwas von uns in sie hineinprojezieren.

    Gefällt 1 Person

    1. Das ist ein interessanter Ansatz, dass die Protagonisten durch weniger strahlendes Auftreten mehr Möglichkeit bieten, sich mit ihnen zu identifizieren, aber wenn ich so darüber nachdenke, stimmt das schon. Man kann sich eher mit einem Menschen mit Makeln identifizieren als mit einem Superhelden ohne Fehler…

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