Die Eistänzerin

Einst tanzte sie wie der Wind, drehte sich mit wehenden Röcken zur Musik. Sie tanzte frei und ohne Gedanken an die Welt, die sie umgab. Furchtlos war sie, wenn die Melodien erklangen, wie im Traum fegte sie über das glänzende Parkett. Wer sie sah, konnte den Blick nicht mehr von ihr lösen, von ihrer Wildheit, ihrer Anmut, ihrer ungezügelten Freude.

Dann kam der Sturz, und ihr tiefer Fall.
Und seitdem ist nichts mehr wie früher.

Ihre Schritte sind vorsichtig geworden. Immer flattern die Hände auf Hüfthöhe, bereit, sie zu fangen, wenn sie fällt. Die Schultern zieht sie nach oben, um ihren Kopf zu schützen, und den Blick hält sie auf den Weg vor ihren Füßen gerichtet. Sie blickt nicht nach links oder rechts, verschwendet keinen Gedanken an die Vögel, die neben ihr auffliegen, und die blühenden Blumen, hört nicht das Rauschen des Windes in den Baumkronen, spürt nicht die warme Sonne auf ihrer Haut. Sie muss aufpassen. Einen zweiten Sturz verkraftet sie nicht. In ihr ist alles kalt.

Es ist, wie auf Eis zu laufen. Ein kleiner Fehltritt nur, und sie wird fallen, und dann wird sie nie wieder aufstehen.

So tastet sie sich voran, einen kleinen Schritt nach dem nächsten. Blickt nicht auf, kann sich nur auf ihre Füße konzentrieren. Und während sie so geht, schrumpft sie in sich zusammen, bis sie nur noch aus gerunzelter Stirn besteht, aus verkrampften Muskeln und erstarrten Gedanken und Händen, die stets in Abwehrhaltung sind.

Als es Winter wird, schließt sie die Tür ihrer Wohnung hinter sich und bleibt zuhause. Zu kalt, zu nass, zu rutschig. Viel zu groß die Gefahr, das Gleichgewicht zu verlieren.

Im Fernsehen läuft Eiskunstlauf. Sie sitzt im Sessel und sieht Männern und Frauen in glitzernden Kostümen zu, wie sie schwerelos über das Eis gleiten. Ganz so, wie sie selber einst über das Parkett tanzte. Vor ihrem Fall. Bevor ihre Welt zu Eis wurde.
Sie sitzt verkrampft im Sessel, die Hände in die Lehnen gekrallt, Kopf zwischen die Schultern gezogen. Doch ihre Augen folgen den Eiskunstläufern.

Es ist also möglich, denkt sie. Man kann auf Eis nicht nur laufen, sondern sogar darauf tanzen.

Der Gedanke lässt sie nicht los, und am nächsten Morgen steht sie auf und geht los. Furchtsam zunächst, doch mit jedem Schritt richtet sie sich weiter auf. Sie schwankt und taumelt, doch sie fällt nicht, denn sie weiß jetzt, dass es möglich ist: man kann auf Eis tanzen. Man muss nur den Mut dazu finden.

6 Gedanken zu “Die Eistänzerin

  1. lunaewunia

    Sehr schöne Geschichte, hat mich wirklich berührt!

    „Dann kam der Sturz, und ihr tiefer Fall.“
    Diesen Satz finde ich wirklich enorm stark!
    Liebe Grüße
    Luna 🙂

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