Dieses Review ist mir schlicht zu lang geworden, um es bei den üblichen Büchern des Monats zu posten – und es ist mir auch zu wichtig. Wieder einmal geht es um ein Buch über Krankenpflege. Dieses Thema ist mir aus naheliegenden Gründen extrem wichtig.
Content Warning: Abtreibung, Totgeburt, Tod
Systemrelevant – Hinter den Kulissen der Pflege (Maximiliane Schaffrath)
Erscheinungsjahr: 2021
Genre: Sachbuch
Es hat bestimmt eine Menge Mut dazugehört, dieses Buch zu schreiben und zu veröffentlichen. Davor ziehe ich meinen Hut – ich selber würde mich so etwas nicht trauen. Respekt, Maximiliane!

In Systemrelevant beschreibt die Krankenpflegerin Maximiliane Schaffrath ihre Ausbildungszeit. Schockierend, brutal ehrlich und ohne ein Blatt vor den Mund zu nehmen, zeigt sie auf, wie grauenhaft sie behandelt wurde, als billige Arbeitskraft ausgebeutet, mit den schlimmsten und unangenehmsten Aufgaben betraut, gemobbt, nicht ernst genommen. Sie zeichnet ein Bild von unmotivierten, grausamen Krankenschwestern, die längst abgestumpft sind und nicht länger sehen können, was sie mit ihrem Verhalten anrichten – aber auch ein Bild von hochqualifizierten Fachkräften, die inspirieren und Mut machen.
Ich bin entsetzt von dem, was Maximiliane durchmachen musste. Nicht, dass ich während meiner Ausbildung nicht ähnliche Situationen erlebt hätte – ich glaube, das hat jede*r. Von den Azubis, mit denen ich jetzt arbeite, höre ich leider vergleichbare Geschichten. Doch so sehr ich auch mit ihr mitfühlen konnte, so sehr fühle ich mich als qualifizierte, motivierte Pflegekraft auch auf die Füße getreten von diesem Buch.
Was absolut – also wirklich vollkommen – fehlt, ist die Frage, warum Pflegekräfte auf Normalstationen oft so abstumpfen. Was macht sie zu diesen müden, unmotivierten Menschen mit kaputten Rücken, gebrochenem Blick und einer Scheißegal-Einstellung? Was unterscheidet sie von den in diesem Buch als regelrecht gottgleich dargestellten, unfehlbaren Intensivpflegekräften? Ich bin Pflegekraft auf einer Normalstation und nur, weil die Patientinnen, die ich betreue, nicht beatmet sind, heißt das nicht, dass ich den ganzen Tag nur rumsitze und Kaffee trinke. Der Personalschlüssel ist ein ganz anderer, die Belastungen sind ganz andere. Das rechtfertigt in keinster Weise, wie Maximiliane auf den Normalstationen in diesem Haus behandelt wurde, aber als Fakt hat es mir einfach gefehlt.
Ich verstehe, dass dieses Buch aus Frust und Wut entstanden ist. Dennoch wäre eine sachlichere Betrachtungsweise wünschenswert gewesen. So, wie dieser Bericht sich liest, ist Maximiliane dreieinhalb Jahre praktisch nur wie ein Stück Scheiße behandelt worden – und hat den Job trotzdem weitergemacht, weil … ja, warum? Weil sie glaubt, es besser zu können? Weil sie sich geweigert hat, ihre Ideale aufzugeben? Wenn man nach dieser Lektüre eines nicht möchte, dann eine Ausbildung zur Pflegefachkraft zu beginnen. Danke dafür.
Dazu kommen fachliche Fehler, die mich stutzen lassen. Im Kapitel über Gynäkologie gibt es diese Szene, in der eine Patientin Maximiliane das Foto von einer „Toilettenschüssel, in der sich viel Blut und etwas Undefinierbares befindet“ zeigt (S.81). „Das war meine Kind“, sagt sie. „Und Schwester sagen, ich müssen ins Klo spülen.“ Mal abgesehen davon, dass ich nachvollziehen kann, wie unfassbar überfordert eine Auszubildende in so einer Situation ist, fehlt mir hier einfach die fachliche Einordnung. So, wie es da steht, wirkt es, als hätte diese Frau einen voll entwickelten, lebensfähigen, aber aus irgendwelchen Gründen gehäckselten Fötus im Klo runterspülen müssen. Warum die Patientin ihr Kind verloren hat, erfährt man nicht. In welcher Woche sie das Kind verloren hat – eine durchaus relevante Information – erfährt man nicht. Dass dieses „Undefinierbare“ vermutlich Schleimhautfetzen und Blutkoagel waren – kein Wort darüber. Dass diese Patientin aller Wahrscheinlichkeit nach einen sehr frühen Schwangerschaftsabbruch hatte, in einer Woche, in der man den Embryo mit bloßem Auge nicht sehen kann – ganz egal, Hauptsache schockieren. Einfach nur die Aussage „die Patientin musste ihr totgeborenes Baby im Klo runterspülen, weil die böse Schwester das gesagt hat“.
Es folgen noch ein paar Kommentare zur Bestattung von Totgeborenen, die ebenfalls schlicht nicht stimmen. So ist eine Bestattung von Föten unter 500 Gramm durchaus möglich, die landen nicht automatisch und wie hier impliziert im Ethikmüll. Je nach Friedhof und Gemeinde gibt es da Regelungen und Möglichkeiten. Dazu kommt eine Bestattungs- und Meldepflicht für alle Lebendgeborenen, auch die, die weniger als 500 Gramm wiegen. Als Pflegekraft auf einer Station, die u.a. gynäkologische Patientinnen betreut – darunter auch solche, die Fehlgeburten oder stille Geburten haben oder die Schwangerschaftsabbrüche durchführen lassen – macht es mich extrem wütend, solche Falschaussagen zu lesen. Schockieren um jeden Preis oder wie? Wer weiß, was da noch für Aussagen drinstehen, die ich nicht als falsch erkenne, weil das nunmal nicht mein Fachgebiet ist?
Schockierend auch, wie Maximiliane sich teilweise über ihre Patient*innen äußert. Wenn ich von „kaputtgesoffenen Leben“ auf der Gastroenterologie (ab S.198) lese, könnte ich Wutanfälle bekommen. Ja, natürlich sind viele Leberzirrhosen auf übermäßigen Alkoholkonsum zurückzuführen. Aber was ist mit all den anderen Lebererkrankungen – Hepatiden nur mal als Beispiel genannt – die zu einer Zirrhose führen können? Was ist mit dem HCC, dem hepatozellulären Karzinom? Nein, es wird nur auf „kaputtgesoffenen Leben“ herumgeritten. Dass Maximiliane sich philosophisch-verständnisvoll gibt und versucht, nachzuvollziehen, wie man derart in die Alkoholsucht abrutschen kann, macht das irgendwie nicht besser.
Das Buch bietet auch keinen „Blick hinter die Kulissen der Pflege“, wie der Titel es impliziert. Stattdessen bietet es einen Einblick in die offensichtlich armseligen Verhältnisse in dem Krankenhaus, in dem Maximiliane ihre Ausbildung gemacht hat. Ich meine – eine Reanimation zum heutigen Zeitpunkt, bei der kein Ambu-Beutel zur Beatmung genutzt wird, sondern per Maske Mund-zu-Mund-beatmet wird? Ein AED (eine Art automatischer Laien-Defibrillator), der einen Schock absetzt, ohne dass ein Mensch diesen auslöst? So was ist schlicht lebensgefährlich. Eine Schule, die es wagt, ein Probeexamen an einer dementen und damit nicht einwilligungsfähigen Patientin durchführen zu lassen? What the fuck, wo hat diese Frau ihre Ausbildung gemacht? Im hinterletzten Kreiskrankenhaus im tiefsten Wald? Dafür gibt’s da zu viele Fachrichtungen.
Ich möchte nicht kleinreden, was sie erlebt hat. Ich will auch nicht bestreiten, dass die Pflegeausbildung eine harte ist, und dass die Schule Unmögliches von den Azubis fordert. Ich weiß, dass Examensprüfungen eine Farce sind. Und ich kann verstehen, warum Maximiliane all das aufgeschrieben hat. Ich habe auf meinem Computer ein Dokument, das Krankenschwestergedanken heißt und in dem ich mir allen Frust über den Job von der Seele schreibe – aber das ist nur für mich. Wenn man ein Buch zu diesem Thema veröffentlicht, ist meiner Ansicht nach ein bisschen Reflektion und Professionalität zu erwarten.
Nicht alle Pflegekräfte sind abgestumpfte, brutale, grausame und schlechte Menschen. (Ich bilde mir mal ein, dass die allermeisten ganz anständige Personen sind, die auch Azubis vernünftig behandeln. Jedenfalls sind das meine Erfahrungen.) Der Job besteht nicht nur aus Scheißsituationen, ganz im Gegenteil. Ich hätte es schön gefunden, wenn dieses Buch differenziert und sachlich über die Situation in der Pflege und besonders in der Ausbildung berichtet. Leider ist das nicht der Fall.
Pingback: Bücher des Monats Juli – Kreativ Leben