Erzählperspektiven

Wer schreiben möchte, kommt nicht um sie herum: die Erzählperspektive. Sie verändert, wie eine Szene wirkt, lässt die Lesenden näher oder weniger nah an die Charaktere heran und hat großen Einfluss auf das Gesamtbild eines Textes.

Was also ist diese Erzählperspektive? Grob gesagt ist sie die Sicht, aus welcher die Geschichte erzählt wird. Sie beschreibt, in welchem Verhältnis der Erzähler zum Protagonisten steht.

Zuallererst muss man sich dafür klarmachen, dass der/die Erzähler*in nicht automatisch der/die Autor*in ist. Natürlich gibt es Ausnahmen, wenn man zum Beispiel eine Autobiografie schreibt bzw. liest, aber in der Regel liest man ja Bücher über fiktive Geschehnisse – oder über wahre Begebenheiten, bei denen der/die Autor*in aber nicht zwangsläufig anwesend war.

Diese Trennung zwischen Erzählstimme und Autor*in ist wichtig. Nicht alles, was eine Figur in einem Buch sagt, denkt oder tut, muss dem entsprechen, was der/die Autor*in zu diesem Thema denkt. Eine Person ohne fremdenfeindlichen Hintergrund kann in ihren Geschichten rassistische Charaktere auftreten lassen, ohne deren Ansichten zu teilen. Vernünftigerweise wird diese Person ihre rassistischen Charaktere als abschreckendes Beispiel einsetzen, ihnen einen Redemption Arc zugestehen oder sie anderweitig benutzen, um aufzuzeigen, wie kleingeistig, gefährlich und widerwärtig Rassismus ist. Wer sich aber nicht bewusst macht, dass Erzählstimme und Meinung der Autor*in nicht zwangsläufig dasselbe sind, könnte bei so einer Geschichte zu falschen Schlüssen über die schreibende Person kommen.

Es gibt drei Erzählperspektiven, auf die man in der Unterhaltungsliteratur immer wieder stößt: den auktorialen Erzähler, den personalen Erzähler und den Ich-Erzähler. Welche dieser Formen gewählt wird, hat großen Einfluss darauf, wie nah die Lesenden den Protagonisten und anderen Charakteren kommen. Die Erzählperspektive beeinflusst auch, was man beim Lesen über Welt und Charaktere erfährt, ob man mehr oder genausoviel weiß wie der/die Protagonist*in. Gemeinsam mit dem allgemeinen Schreibstil hat das natürlich Auswirkungen auf die Spannung, die aufgebaut werden kann.

Der auktoriale Erzähler

Auch der allwissende Erzähler genannt. In dieser Erzählperspektive wird die Geschichte wie von einem außenstehenden Kommentator erzählt, der genau weiß, was wann wo mit wem passiert – und zwar immer. Er weiß jederzeit, was die Figuren tun, aber auch, was sie denken und was sie planen. Geschrieben wird in der dritten Person Singular.

Hier ein Beispiel:
Der Vibrationsalarm seines Smartphones erlöst Linus von der Pflicht, etwas sagen zu müssen. Er wirft einen Blick aufs Display, wo Yussufs Nummer aufleuchtet. Sein Mitbewohner, der zuhause sitzt und sich fragt, wo zur Hölle Linus sich eigentlich rumtreibt.
„Sorry“, murmelt der Arabella zu und geht ran: „Was ist denn?“
„Wie, was ist denn?“, brüllt Yussuf in voller Lautstärke. Er hat schon viermal versucht, Linus zu erreichen, und langsam die Nase voll. „Hast du mal auf den Tacho geguckt? Es ist gleich Elf! Wo bist du, zum Teufel?“
Linus wirft Arabella einen verlegenen Blick zu. Sie tut so, als betrachte sie ihre Fingernägel, aber natürlich hat sie alles mitgehört – kein Wunder, so, wie Yussuf schreit. Aus dem Augenwinkel beobachtet sie ihren Gast und gibt sich Mühe, ein Schmunzeln zu unterdrücken. Er soll nicht denken, dass sie ihn auslacht.
Unangenehm genug ist ihm die Situation ohnehin schon. „Hör auf zu schreien“, bittet er Yussuf. „Ich fahr demnächst heim.“ Vorausgesetzt, er findet heraus, dass er sich in der Lilienstraße befindet und dass die nächste U-Bahn-Haltestelle erbauliche zwanzig Minuten von der Haustür entfernt liegt.

In dieser kleinen Szene wird deutlich, dass der Erzähler weiß, was in allen Beteiligten vorgeht, und dies dem Leser auch mitteilt. Der auktoriale Erzähler ist sehr vielseitig einsetzbar, kann zynisch kommentieren, den Lesenden kleine Tipps und Hinweise geben, er behält immer den Überblick und macht es leicht, der Handlung zu folgen. Aber da immer und überall klar ist, was passiert, ist es schwerer, in dieser Erzählperspektive wirkliche Spannung aufzubauen, und für den/die Autor*in besteht die Gefahr, sich in Einzelheiten zu verheddern. Der auktoriale Erzähler eignet sich besonders für Einleitungen und Überleitungen; ganze Bücher aus dieser Erzählperspektive sind selten.

Der auktoriale Erzähler hat den absoluten Überblick.

Der personale Erzähler

Anders als der auktoriale Erzähler ist der personale Erzähler nicht allwissend. Er blickt durch die Augen einer bestimmten Figur, sieht nur, was diese Figur sieht, weiß nur, was diese Figur weiß, und erlebt nur, was diese Figur erlebt. Geschrieben wird auch hier in der dritten Person Singular.

Der personale Erzähler ist extrem verbreitet. Es ist nicht unüblich, eine Geschichte aus mehreren Blickwinkeln zu schreiben – dann hat man gewissermaßen zwei oder mehr personale Erzähler, einen für jeden Charakter, aus dessen Sicht Szenen geschrieben werden. Wichtig ist, dass auch dabei die jeweiligen Erzählstimmen nur das wissen, was „ihre“ Figur weiß.

Der Beispieltext von vorhin einmal mit einem personalen Erzähler:
Der Vibrationsalarm seines Smartphones rettet Linus davor, etwas sagen zu müssen. Er wirft einen Blick aufs Display. Yussufs Nummer blinkt auf. „Sorry“, murmelt er Arabella zu und geht ran: „Was ist denn?“
„Wie, was ist denn?“, brüllt sein Mitbewohner ihm ins Ohr. „Hast du mal auf den Tacho geguckt? Es ist gleich Elf! Wo bist du, zum Teufel?“
Wie peinlich. Linus wirft einen Blick zu Arabella. Bestimmt hat sie alles mitgehört, so, wie Yussuf schreit. Sie betrachtet ihre Fingernägel, aber er ist sich sicher, dass ihre Mundwinkel zucken. Lacht sie ihn etwa aus, oder versucht sie, sich einen spöttischen Kommentar zu verbeißen? „Hör auf, zu schreien“, bittet er Yussuf. „Ich fahr demnächst heim.“ Sobald er herausgefunden hat, wo er ist und wo die nächste U-Bahn-Haltestelle ist, versteht sich.

Die Erzählstimme beschreibt die Handlung hier aus Linus‘ Blickwinkel. Dass Yussuf schon öfter versucht hat, ihn zu erreichen, weiß er nicht und kann es dem Leser deswegen auch nicht mitteilen. Dafür ist man beim Lesen näher am Protagonisten dran.

Der personale Erzähler sieht die Geschehnisse nur aus den Augen eines Charakters.

Der Ich-Erzähler

Die dritte sozusagen handelsübliche Erzählperspektive ist der Ich-Erzähler. Hierbei sind Erzählstimme und Protagonist identisch, als säße der Charakter bei den Lesenden und erzählte ihnen die ganze Geschichte aus seiner – und nur seiner – Sichtweise. Dabei kann die Figur die Lesenden sogar direkt ansprechen, muss sie aber nicht. Durch diese Perspektive wird die größte Nähe zur Figur geschaffen. Dafür bleibt jegliche Sicht anderer Figuren vollkommen außen vor. Geschrieben wird hier in der ersten Person Singular.

Der Ich-Erzähler ist auch die Erzählperspektive, die ich für mein Camp-Projekt gewählt habe, aus dem der kleine Beispieltext stammt. Hier ist er nochmal in unveränderter Form:
Der Vibrationsalarm meines Smartphones erlöst mich grade so. Ich werfe einen Blick aufs Display. Yussuf. Was will der denn? „Sorry“, murmele ich Arabella zu und gehe ran: „Was ist denn?“
„Wie, was ist denn?“, brüllt mein Mitbewohner mir ins Ohr. „Hast du mal auf den Tacho geguckt? Es ist gleich Elf! Wo bist du, zum Teufel?“
Ich schiele zu Arabella. Bestimmt hat sie alles mitgehört, so wie der brüllt. Sie betrachtet eingehend und überhaupt nicht verdächtig ihre Fingernägel. Ich glaube, ihre Mundwinkel zucken, aber falls sie lachen will, verbeißt sie es sich erfolgreich. „Hör auf, zu schreien“, bitte ich Yussuf. „Ich fahr demnächst heim.“ Sobald ich herausgefunden habe, wo ich bin und wo die nächste U-Bahn-Haltestelle ist. Wird schon nicht so schwer sein.

Mit einem Ich-Erzähler ist es einfach, Nähe zur Figur zu schaffen und ihre Gefühle und Gedanken darzustellen. Trotzdem sollte man eines der wichtigsten Prinzipien nicht vergessen: Show, don’t tell! Wenn eine Figur dem Leser ausführlich darlegt, dass sie sich fürchtet, weil es dunkel ist, sie alleine in einer großen Höhle voller Fledermäuse ist, es kalt ist und sich grade etwas raschelnd bewegt hat – das ist langweilig und erzeugt keinerlei Spannung. Man muss also darauf achten, trotz der Nähe zur Figur nicht jeden ihrer Gedankengänge auszuformulieren.

(Ich gestehe, das folgende Foto passt nicht ganz; aber trotz lieber Bitten haben die Kormorane sich geweigert, mich ein Foto über ihren Schnabel hinweg aufnehmen zu lassen. Man kann nicht alles haben.)

Der Ich-Erzähler sieht durch die Augen der Figur und ist mit ihr identisch.

Das sind also die drei üblichen Erzählperspektiven. Sie können gemischt werden oder alleine benutzt, man kann zwischen ihnen wechseln oder es sein lassen. Wichtig ist, dass man sich immer Gedanken darüber macht, was man mit welcher Perspektive bewirkt und wie sie die Szene gegebenenfalls verändert.

Außerdem sind zu häufige Perspektivwechsel ohne ersichtlichen Grund verwirrend für die Lesenden und machen es schwer, der Handlung zu folgen. Am einfachsten ist es, sich eine Perspektive auszusuchen, die gut passt, und dabei zu bleiben. Wenn Kommissarin Schmidt-Müller immer Kapitel hat, die mit einem personalen Erzähler geschrieben sind, ist es für die Lesenden verwirrend, wenn sie plötzlich mit einem Ich-Erzähler geschrieben wird.

Habt ihr schonmal mit Erzählperspektiven experimentiert? Welche ist eure liebste? Gibt es vielleicht eine, die euch Schwierigkeiten bereitet?

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